Es wird immer schlimmer. Je tiefer ich in die Materie einsteige, je mehr ich in Erfahrung bringe und aufdecke, umso unheimlicher wird mir diese Tour! Sie ist wie ein Sog, ein Strudel, der mich zu verschlingen droht. Aber es gibt kein Zurück mehr! Ich werde den Weg bis zu Ende gehen, komme, was da wolle.

Nach einem Off-Tag (den ich überwiegend mit der Lektüre mystischer Literatur verbracht habe), verschlug es mich nun gestern nach Fischbachau! Ein Sprichwort sagt ja: Fischbachau sehen und sterben. Ich bin aber seit gestern überzeugt, es müsste richtig heißen: komm nach Fischbachau und stirb!

Auf der Autobahn von München in Richtung Salzburg war noch alles normal. Kaum aber, dass ich abgefahren war, veränderte sich schlagartig das Licht. Es wurde düster, bedrohlich, die Welt schien wie in Moll eingehüllt! Das beunruhigendste war aber, dass plötzlich der Gesang der Vögel verstummte. Es herrschte eine Grabesstille. Fragt mich nicht, wie ich das im fahrenden Auto bemerken konnte. Ich tat es! Und dieser Zustand schnürte mir vor Angst die Kehle zu. Ich war schon drauf und dran, umzukehren, aber irgend etwas trieb mich voran. Es schien mir fast, als hätte ich die Kontrolle über mein Handeln verloren. Eine innere Stimme befahl mir, weiter zu fahren, auch wenn ich direkt in mein Verderben steuerte. Aber wenn ich mein Leben schon verwirkt hatte, dann sollte es wenigstens einen Sinn haben.


So erreichte ich nach schier endlos scheinender fahrt durch unbewohntes Gebiet jenes düstere Dörfchen namens Fischbachau. Auf dem Ortsschild hockte eine einäugige Krähe und musterte mich argwöhnisch aus dem ihr verbliebenen Auge. Links und rechts der Straße schlugen die Bewohner der kleinen Hütten hastig ihre Fensterläden zu, während ich Ausschau nach der Wolfseehalle hielt. Die Sonne war inzwischen untergegangen und der Mond versteckte sich hinter dunklen Wolken.
Als der Himmel plötzlich aufriss, sah ich sie im aschfahlen, eisig blauen Licht am Fuße eines schneebedeckten Berges liegen: die Wolfseehalle. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Sie verbarg ein Geheimnis, das konnte ich spüren.

Ich steuerte mein Auto auf den Parkplatz, als plötzlich ein buckliger Mann aus dem Schatten der Bäume trat und mir beschwörerisch zuwinkte. Ich stoppte neben ihm und ließ meine Scheibe herunter. Er steckte seinen Kopf durch mein Fenster, und sein fauliger Atem raubte mir beinahe die Sinne. »Dreht um!« keuchte er. »Ich flehe euch an, dreht um, solange ihr noch könnt! Sie werden…« Mitten im Satz hielt er inne. Es war noch jemand an mein Auto heran getreten. Mit versteinerter Miene und verschränkten Armen stand D. bewegungslos da und starrte den Buckligen durchdringend an. Der ächzte heiser kurz auf und lief in wilder Panik davon. Ein kaltes Lachen zog über D.’s Gesicht, als er sich umdrehte und langsam hinter dem Club verschwand.

Nackte Angst packte mich und hielt mich mit eisernen Klauen gefangen. Mein Herz raste. Würde sich hier und heute mein Schicksal besiegeln? Konnte ich ihm entgehen? Oder war es längst zu spät, zu fliehen? Wie in Trance parkte ich mein Auto unter unbelaubten Bäumen, die im Mondlicht wie vielarmige Monster aussahen und ihre Arme gierig nach mir ausstreckten.

Vor der Halle standen bereits die Fans in langer Warteschlange an und mich fror. Also beschloss ich, kurz im daneben liegenden Gasthaus eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Ich betrat die Wirtsstube, in der reges Treiben herrschte, das aber augenblicklich erstarb, als ich eintrat. Alles starrte mich an. Ich zögerte einen Moment, überlegte, ob ich einfach wieder hinausgehen sollte, entschied mich dann aber anders und schloss die Tür hinter mir. Nur musste ich irgend etwas sagen. Fieberhaft überlegte ich, mein Kopf war wie leergefegt und sagte schließlich: »Es schneit!« In den Gesichtern der Gäste machte sich Ratlosigkeit breit. Schließlich durchbrach einer der Gäste, augenscheinlich der Dorfälteste, die Stille und antwortete: »Ist wegen dem Wetter!« Damit war aber das Eis gebrochen und man bot mir einen Platz am Stammtisch an. Ich nahm dankend an. Vielleicht konnte ich ja so etwas über diesen Ort in Erfahrung bringen. Ich blickte in die Runde und bemerkte, dass hier nicht eine einzige Frau anwesend war. Ich tippte meinen Tischnachbarn an und fragte, wieso das so sei. Die Gespräche erstarben erneut, und diesmal war die Bedrohlichkeit, die in der Luft lag, geradezu physisch zu spüren. Blicke durchbohrten mich, und ich wäre in diesem Moment lieber an jedem anderen Ort der Welt gewesen. Wiederum war es der Dorfälteste, der das Schweigen unterbrach, und mit leidvoller Miene fast unhörbar »die haben’s g’holt« hervor presste. Ich folgte seinem Blick zur mir gegenüber liegenden Wand.

Dort hing neben vielen ausgestopften Tieren kopfüber eine Gemse an der Wand. Es sah aus wie ein Opferschrein. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Wer hatte sie geholt. Und warum? Meine innere Stimme sagte mir aber, dass ich besser nicht nachfragen sollte. Hier hatte ich nichts mehr zu erwarten. Ich stand auf, nickte kurz in die Runde und ging zurück zum Ausgang. Dort stand der Bucklige, starrte mich an, und als ich an ihm vorbei ging, bekreuzigte er sich, machte aber keine weiteren Anstalten, mich aufzuhalten.

Der eisige Wind, der mich draußen empfing, tat mir gut. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und ging zum Eingang der Halle. Es war inzwischen kurz vor acht, die wartenden Fans waren verschwunden.
Ich betrat das Gebäude, das von außen eher wie eine große Scheune aussah, von drinnen aber zeigte sich ein ganz anderes Bild. Es war eine Art Kirche, nur eben nicht in der Form, wie man es sich gemeinhin vorstellt. Komplett aus Holz gebaut, mit riesigen Kerzenleuchtern an der Decke und Götzenabbildungen an den Wänden wirkte sie eher wie ein heidnischer Tempel.
Am auffälligsten aber war die Stille, die darin herrschte. Obwohl mindestens tausend Personen anwesend waren, hörte man keinen Laut. Es schien, als hielten alle den Atem an und warteten auf etwas ganz Bestimmtes, beinahe wie in Trance. Ich versuchte, mich so unauffällig wie möglich zu bewegen und machte heimlich ein paar Fotos.

Erst als die Band die Bühne betrat, ging ein Aufschrei durch die Menge.

Was dann folgte war das gleiche Ritual wie jeden Abend. Blutjunge Damen fielen reihenweise in Ohnmacht, wurden von den Ordnern abtransportiert, junge Menschen zuckten in wilder Extase, die Band zelebrierte ihren Düster- und Depri-Rock, und es wollte mir einfach nicht gelingen, gestochen scharfe Fotos zu machen. Daran hatte ich mich ja inzwischen gewöhnt, und ich denke, ihr werdet es mir nachsehen. Ich bin vollkommen unschuldig!

Was sich nach dem Konzert backstage abspielte, kann man nur ahnen, denn in das Allerheiligste vorzudringen, war mir auch heute wieder nicht vergönnt. Dabei war ich mir nicht mal sicher, ob ich die Wahrheit wirklich wissen wollte, bzw. ob ich die Wahrheit bestätigt haben wollte. Denn tief in mir drinnen wusste ich ja längst, was sich dort abspielte. Und trotzdem bereitet es mir immer noch Übelkeit, darüber nachzudenken.

Draußen vor der Halle blickte ich die angsterfüllten Gesichter wartender Mütter und Väter, die ihre Kinder abholen wollten. Wie würden sie jemals damit fertig werden? Würden sie überhaupt jemals damit fertig werden? Hatte ich nicht die Pflicht, ihnen alles zu sagen, was ich wusste? Geplagt von derlei Gedanken stieg ich ins Auto und fuhr davon. Ich fühlte mich wie ein Feigling, und wahrscheinlich war ich auch einer.