Ich war immer noch in Bayern. Und es war immer noch unheimlich. Die Menschen redeten allerorten in einer altertümlichen Sprache, waren Fremden gegenüber mehr als misstrauisch und machten im Allgemeinen einen niedergeschlagenen, ja geradezu unterdrückten Eindruck.

So erreichte ich Augsburg, die vorletzte Station der Nackt unter Kannibalen-Tour. In grauer Vorzeit entstand diese Stadt aus einer Ansiedlung mordender und brandschatzender Barbaren, die fellbehangen ganze Landstriche verwüsteten und ausrotteten. Und etwas ist auch heute noch davon zu spüren. Völlig von der Außenwelt abgeschlossen, umringt von Bergen, die maroden Straßen kaum noch passierbar, versuchen die Augsburger das Beste aus ihrer desolaten Situation zu machen. So wunderte es mich nicht, dass ausgerechnet auch diese Stadt auf dem Tourplan stand. Sie passte ausgezeichnet in das Gesamtbild, das sich mir inzwischen offenbarte.


Immer noch unter den Eindrücken vom Vorabend leidend mischte ich mich heute wieder als Fan in die Konzerthalle und sah mich um. Links neben der Bühne stand die entsetzliche Dotty und flüsterte mit einem Ordner, während sie sich hektisch umsah, so als wollte sie sich vergewissern, dass sie niemand belauschte. Plötzlich entdeckte sie mich, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch eine Hintertür. Gerade noch rechtzeitig drückte ich auf den Auslöser und schoss dieses Foto.

Mein Blick wanderte an der Wand entlang und entdeckte ein Plakat, das mir einen gehörigen Schrecken einjagte. Auch wenn diese Halle weniger wie ein Ort aussah, an dem Schwarze Messen abgehalten wurden, war mir doch sofort klar, dass hier Schreckliches vor sich ging. Denn hier trieb kein Geringerer als Guy Fränkel sein Unwesen. Jeder von euch kennt diesen Namen und weiß, was das bedeutet.
Während ich an der Theke lehnte und das Treiben im Graben beobachtete, bemerkte ich plötzlich den Mann im feinen Zwirn, der – zum Glück mit dem Rücken zu mir – vor mir stand. Das war ER: Guy Fränkel! Er war hier! Das konnte nichts Gutes bedeuten. Was würde hier heute Abend passieren?

Mir blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn das Licht erlosch und die Band betrat die Bühne. Mit stoischer Ruhe stellten sie sich an ihre Instrumente und die dunklen Moll-Akkorde des Gitarristen zersägten die Stille.

Im Wesentlichen glich dieser Abend allen vorangegangenen, außer das Security D. mir heute seltsam aggressiv vorkam. Ich hatte inzwischen jegliche Scheu verloren, entdeckt zu werden und stand die meiste Zeit über dicht am Graben, um mir jedes Detail einzuprägen und gegebenenfalls fotografisch festzuhalten. Jedes mal, wenn sich unsere Blicke trafen, hielt er mir hasserfüllt den Mittelfinger entgegen. Er wusste es also. Er wusste, wer ich bin und warum ich hier war. Das war nun völlig klar!

Das Publikum war der Band hörig und verfallen wie an jedem anderen Abend zuvor. Unglaubliche Szenen spielten sich ab, und auch heute verschwanden wieder mehrere Dutzend junger Damen über den Schultern örtlicher Securities hängend im Backstagebereich. Die, die in der Halle verblieben, wanden sich in wilder Verzückung.

Ich machte heimlich ein paar Aufnahmen, aber ein paar der Fans entdeckten mich dabei und reagierten sehr ungehalten, was sie durch entsprechende Gesten zum Ausdruck brachten. Mich wunderte das nicht, denn was gab es Leichteres, als sich bestimmte Verhaltensmuster bei D. abzugucken?

Als ich seitlich am Graben stand, machte ich jedoch eine Entdeckung, die mich überraschte. Bisher waren stets junge, zumeist attraktive Frauen, hinter die Bühne geschleppt worden. Jetzt aber sah ich, wie D. sich an einem jungen Mann zu schaffen machte. Ich war mehr als perplex. Das hatte ich nun weniger erwartet. Und tatsächlich – er trug den Jüngling eigenhändig nach hinten und blieb eine Weile verschwunden.

Als er wieder im Graben erschien, machte er einen sehr entspannten, geradezu gutgelaunten Eindruck und grinste breit. Er zeigte mir zwar immer noch den Mittelfinger, als er bemerkte, dass ich alles beobachtet hatte, aber selbst das wirkte beinahe nett.

Mein Blick wanderte am Verstärker des Gitarristen entlang und blieb an einem kleinen Aufkleber hängen. Allerdings konnte ich nicht erkennen, was darauf geschrieben stand. So sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht gelingen. Zum Glück hatte ich jedoch mein Teleskop-Objektiv aus einer alten Fix und Foxi-Ausgabe dabei. Ich visierte den Sticker an und was ich las, beunruhigte mich zutiefst.
Dort stand: »Alles, was nicht in den Mund passt, ist Verschwendung«

Nun konnte ja jeder sehen, dass bei dem Gitarristen so einiges in den Mund passte, und was da hinein sollte, war mir inzwischen längst klar. Mein Magen fühlte sich an, als würde er sich gerade dreimal um die eigene Achse drehen.

So stand ich da und bemerkte nicht mal, dass das Konzert inzwischen vorüber war und die Band längst die Bühne verlassen hatte. Nur langsam kam ich zu mir und realisierte, wo ich war.
Ich sah mich um und entdeckte D. und Dotty, die neben der Bühne standen und verächtlich in meine Richtung blickten. Als unsere Blicke sich trafen, machten sie urplötzlich eine Bewegung, so als würde man jemanden erschrecken wollen. Und das gelang ihnen bei mir, weiß Gott! Ich zuckte dermaßen zusammen, dass ich glaubte, mein Herz würde aussetzen. Vermutlich tat es das sogar.

Während ich aus der Halle türmte, hörte ich hinter mir das hämische Lachen der Beiden. Sie machten aber keine Anstalten, mir zu folgen, denn sie konnten sich ja sicher sein, dass ich am nächsten Abend ohnehin wieder dabei sein würde, beim letzten Termin der Tour in Rottweil.

Draußen rannte ich fast einen jungen Mann über den Haufen, der stark aus einer Kopfwunde blutete. Man hatte ihm offenbar bei lebendigem Leib das Gehirn entfernt, denn er war nicht mehr in der Lage, zu sprechen, sondern machte nur noch fahrige Handbewegungen und taumelte orientierungslos umher. Ich hatte allerdings keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Deshalb kann ich euch auch leider nicht sagen, was aus ihm geworden ist. Vermutlich ist er später am Abend in eine der vielen Schluchten gestürzt, was bei seinem Zustand vielleicht sogar eine Gnade gewesen wäre.