Meine lieben Spacken, ich weiß nicht, ob ich diese Mission überleben werde. Möglicherweise sind diese Aufzeichnungen das Letzte, was ich der Nachwelt hinterlasse. Möglicherweise komme ich auch gar nicht mehr dazu, sie zu veröffentlichen. Vielleicht werden sie eines Tages gefunden, so wie das Buch des Blutes in Evil Dead, oder die letzten Kamera-Aufnahmen in Blair-Witch-Project. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: ich bin in Gefahr!

Ihr werdet mir jetzt sicher noch nicht glauben können, aber ich kann euch nur versichern, dass ich nicht übertreibe. Ich flehe euch an, mir zu glauben. Denn nun weiß ich es mit Gewissheit: da ist etwas faul im Lande Nackt unter Kannibalen. Und das stinkt nach Moder und Verwesung.

Meinen letzten Bericht beendete ich mit »oh, Moment, es klingelt!« Als ich die Tür öffnete, war dort niemand. Aber das, was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Auf dem Boden lag eine leere Pappröhre, wie man sie im Inneren von Küchenpapier-Rollen findet. Darauf stand in blutroter Schrift: »Letzte Warnung!« Und dieses Rohr bewegte sich und gab ein schabendes Geräusch von sich. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Vorsichtig beugte ich mich hinunter, hob es auf und spähte hinein. Erleichtert bemerkte ich, dass lediglich ein Goldhamster darin saß. Aber dann fiel es mir plötzlich wie Kanonenkugeln aus den Haaren. Ich erinnerte mich an die Geschichte vom Hamster Raggot und seinen zwei Besitzern, die das Haustier leicht zweckentfremdet eingesetzt und nicht ganz artgerecht behandelt hatten. Und offenbar wollte man mir damit andeuten, was mir blühen würde, wenn ich weiter meinen Recherchen nachging.

Aber wie konnte das sein? Mich hatte doch nie jemand entdeckt. Dazu war meine Tarnung stets zu perfekt gewesen. Das konnte niemand durchschaut haben. Oder doch? Vielleicht waren meine Verkleidungen auch zu gut gewesen. Vielleicht nicht zeitgemäß. Vielleicht war ich overdressed und deshalb aufgefallen. Dem musste ich auf den Grund gehen.

Ich hatte heraus bekommen, dass es in Braunschweig ein Meet & Greet mit Fans und der Band geben sollte. Ich musste mich dort also nur hinein mogeln und unauffällig verhalten. Und ich hatte genug Winnetou-Filme gesehen, um zu wissen, wie man als Rothaut an fremde Kavallerie-Uniformen kommt.
Also mischte ich mich unter das wartende Volk vor dem Jolly Joker in Braunschweig und hatte ziemlich schnell raus, wer zu den glücklichen Gewinnern zählte. Die konnte man an hektischen Flecken im Gesicht, komplett abgekauten Fingernägeln und Literflaschen Baldrian leicht erkennen. Ich sprach einen der Gewinner an, verstrickte ihn in ein Gespräch, wir gingen ein Stück von den anderen weg, und in einem unbemerkten Moment verpasste ich ihm – ganz Old-Shatterhand-like – eine Schmetterhand und streckte ihn nieder. Danach zog ich ihn ins Gebüsch und bemächtigte mich seiner Kleider. In den Filmen sieht das ja immer ganz einfach aus. Schläger und Opfer verschwinden, kurz danach kommt Schläger gut getarnt mit Opfers Klamotten heraus. Was der Film aber verschweigt: zieh mal einem ohnmächtigen 80-Kilo-Mann all seine Sachen aus. Das ist nicht nur schwierig, sondern auch etwas peinlich. Man kann zum Beispiel einem auf dem Rücken liegenden Mann eine Hose eigentlich nicht herunter ziehen, ohne dass der Schlüpfer automatisch mit in die Knie rutscht. Und das kann zu peinlichen Situationen führen. Aber dieses Opfer habe ich gebracht. Für euch! Und für die Wahrheit! Ich mischte mich also wieder neu gestylt unter die Wartenden, und bald darauf wurden wir in einen dunklen Verschlag geführt, wo wenig später auch die Band zu uns stieß. Was würde nun passieren? Wie lief so ein Meet & Greet eigentlich ab? Ich hatte keine Ahnung. Wir saßen an Tischen einander gegenüber, die Band ganz in schwarz, mit dunklen Sonnenbrillen und den bereits erwähnten Hüten, die so tief in die Stirn gezogen waren, dass man fast nichts vom Gesicht erkennen konnte. Es herrschte eisiges Schweigen. Wo war ich hier nur hin geraten? Was sollte das alles? Auch ich traute mich nicht, ein Wort zu sagen.


Security D. war natürlich auch dabei und ließ seine Blicke misstrauisch hin und her wandern. Offensichtlich spürte er, dass sich hier ein Spion eingeschlichen hatte. Mit Schrecken dachte ich an Raggot. Wenn er mich enttarnte, war es aus mit mir.
Aber wenigstens Fotos wollte ich doch machen. Um die Stille nicht zu unterbrechen, hob ich mit fragendem Blick die Kamera in seine Richtung, und er nickte fast unmerklich, musterte mich dabei aber mit durchdringendem, animalischen Blick. Bei diesem Mann konnte ich mir wirklich gut vorstellen, dass er kleinen, blassen Mädchen in den Hals beißt, oder Frauen zu lautester Industrial-Musik mit größter Freude auspeitscht.
Ich stand auf, bedeutete ein paar Fans, sich neben einen der Musiker zu stellen, damit ich sie fotografieren konnte. Ich hob die Kamera, und plötzlich, ohne dass ich etwas bemerkt oder gespürt hätte, stand D. neben mir, begutachtete im Display den Bildausschnitt und schob meinen Arm ein Stück zur Seite.
Das machte er bei allen folgenden Bilder, sodass ich immer nur den Fan, nie aber einen Musiker, die zum Teil sogar noch obszöne Gesten machten, auf’s Bild bekam.

Selbst wenn ich versuchte, unbemerkt aus der Hüfte ein Bild zu machen, war nie einer der Musiker drauf. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

Nach endlos scheinenden Minuten durften wir dann endlich den Raum wieder verlassen, allerdings stellte ich mit Entsetzen fest, dass von den ursprünglichen zehn Fans drei junge Damen fehlten. Früher hat man ja gerne die Formulierung »der Mann ist im Krieg geblieben« benutzt.

Und hier musste man wohl sagen: die sind drinnen geblieben. Was das vermutlich bedeutete, mag sich jeder selber ausmalen, sofern die Phantasie dazu ausreicht.


Dadurch, dass wir nun direkt draußen vor der Tür standen, konnten wir nach Beginn des Einlasses direkt in die erste Reihe stürmen. Heute war ich Teenager und ich wollte alles mitnehmen. Schließlich war ich euch noch ein paar Erklärungen schuldig, und von wo konnte ich die Band wohl besser beobachten als von hier vorne.
Als erstes fielen mir die BHs auf, die trophäenartig am Schlagzeug hingen. Ein Gedanke begann in meinem Kopf zu reifen, obwohl ich mich dagegen wehrte. Dabei wusste ich, dass ich die Wahrheit nicht leugnen konnte. Das mussten, ja das konnten nur die BHs der armen drei Mädchen sein, die »drinnen geblieben« waren. Offenbar hatten sie noch Hilferufe auf die Kleidungsstücke geschrieben, aber ich fürchte, die haben ihnen nichts mehr genützt. Die armen Dinger!

Dann kam D. in den Graben – ein sicheres Indiz, dass es bald los ging. Und so war es auch. Das Licht erlosch, und auf blutroter, komplett eingenebelter Bühne erschienen Nackt unter Kannibalen. Die Leute hinter mir begannen wie wild zu schieben und ich bekam keine Luft mehr. Aber ich wollte meinen Platz nicht aufgeben. Ich brauchte Bildmaterial! Nur hatte ich da nicht an D. gedacht. Der saß die ganze Zeit in einem Lehnstuhl im Graben und beobachtete mit hochgelegten Füßen und einem Glas in der Hand die erste Reihe, zeigte hin und wieder auf eine meist attraktive junge Dame und bedeutete den anderen Ordnern, sie heraus zu ziehen und nach hinten zu tragen. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Die ahnten ja nichts von ihrem grausigen Schicksal. Und ich konnte nichts tun.
Obwohl D. abgelenkt zu sein schien, bemerkte er es jedes mal, wenn ich meine Kamera hob, richtete sich kurz im Sessel auf, ohne aufzustehen, und sofort ließ ich den Apparat sinken, drückte aber dennoch ab. So hatte ich nur Bilder von den Schuhen der drei Musiker.

Und erst zu Hause fiel mir beim Ansehen der Bilder auf, dass die ganze Bühne mit Blutflecken besudelt war. Um Himmels Willen, da musste es ja ein regelrechtes Schlachtfest gegeben haben.

Von der Bühne waberte immer mehr Rauch zu uns herunter und ich merkte gerade noch rechtzeitig seine halluzinogene Wirkung. Links und rechts neben mir verdrehten die Fans die Augen, lächelten selig und streckten extatisch ihre Arme nach vorne.

Aber ich wollte kein seelenloses Wesen wie in »Die Dämonischen« werden und versuchte zu entkommen. Nach hinten war das aber unmöglich. Also stemmte ich mich an der Absperrung hoch, als ich plötzlich zwei starke Hände unter meinen Armen spürte. Ich sah hoch und blickte D. direkt in die Augen. Als wäre ich ein Leichtgewicht zog er mich aus der Menge und setzte mich sanft auf den Boden. Hatte er mir gerade zugezwinkert? Hätten mich diese Pranken nicht eigentlich in der Mitte durchbrechen müssen? Und wieso lächelte er mich an? Ich verstand gar nichts mehr.
Verwirrt verließ ich den Graben und ging nach oben auf den Balkon. Zum Glück hatte ich ja den Pass und konnte mich relativ frei bewegen.

Von oben sah ich auf die Bühne und bemerkte hinter dem Schlagzeug eine Art Altar. Neben vielen mystisch anmutenden Gegenständen lag dort auch ein Heft, in dem Bilder von auf vielfältige Art geschändeten Frauen abgebildet waren. Ich dachte an die jungen Mädchen, die nach hinten getragen worden waren und erschauerte.


Auch der Gitarrist hatte so eine Art Altar an seiner Seite. Immer wieder stellte er sich davor, murmelte unverständliches Zeug und trank in einem fort aus einer Tasse, die sich aber wie von Geisterhand sofort wieder füllte. Als er sie abstellte und ich von oben hinein sah, begann es in meinem Kopf zu dröhnen und mir wurde kotzübel. Blut! Das war Blut! Bisher hatte ich immer an Tee gedacht, aber weit gefehlt. Oh mein Gott!

Der Name der Band war Programm!!!


Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, stand da wie versteinert, als ich plötzlich neben mir eine Eiseskälte spürte. Wie in Trance bewegte ich meinen Kopf zur Seite und sah IHN! Da stand es, das personifizierte Böse und blickte mich verächtlich aus seinen eiskalten Augen an. Ich riss instinktiv die Kamera hoch, drückte ab und rannte. Rannte um mein Leben. Nur raus hier. Weg aus diesem Wahnsinn. Hinter mir dröhnten hasserfüllte Texte aus den Boxen (»du bist hier eingestaubt, ich habe dir die besten Jahre des Lebens geraubt«), aber ich wollte nur noch eins: nach Hause!