Nach den einwandfrei entlarvenden Fotos aus Rostock dürftet ihr alle inzwischen eigentlich zu einem einstimmigen Ergebnis gekommen sein, was das große Geheimnis hinter der Tour von Nackt unter Kannibalen angeht. Aber wahrscheinlich sind immer noch Zweifler unter euch, ungläubige Thomase, die es dann doch gern doppelt und dreifach bewiesen haben möchten. Aber fürchtet euch nicht: eure Zweifel werden zerstreut werden wie Brosamen im Winde.

Auch heute wartete ich wieder vor dem Hotel, in dem die Band eine weitere Nacht verbracht hatte. Im Laufe des Tages mussten sie zwangsläufig nach Halle fahren, und ich wollte mich wie schon an den Tagen zuvor an ihre Fersen heften. Dann aber geschah etwas Unerwartetes: der Gitarrist der Band (seiner düsteren Erscheinung nach zu urteilen ganz offensichtlich ein bekennender Satanist) kam heraus, ging aber nicht auf den Bus, sondern direkt auf mein Auto zu. Oh Scheiße, man hatte mich entdeckt. Jetzt war alles aus. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun konnte. Aussteigen und fortlaufen? Das konnte ich wohl vergessen. Der Mann war fast zwei Meter groß, athletisch durchtrainiert und mit einem Mund ausgestattet, der nur dazu zu dienen schien, kleine Kinder zu verschlingen. Und da gingen mindestens vier auf einmal rein.

Aber was war das? Er ging an mir vorbei. Er ging tatsächlich an mir vorbei. Aber wo wollte er hin? Das musste ich natürlich genau wissen. Ich folgte ihm unauffällig, was in dem Gewühl der Innenstadt nicht schwer war. Er verschwand im Saturn. Aha, sicherlich würde er sich ein paar Death-Metal-CDs kaufen oder blutige Metzelfilme. Ich schlenderte durch die Regale und beobachtete, was er in seinen Einkaufskorb legte. Allein, dass er so einen Korb in der Hand hielt, erfüllte mich mit Erstaunen und ich konnte mir doch ein Grinsen nicht verkneifen. War das tatsächlich der Mann, der an den Abenden zuvor die bösen Gitarren-Riffs aus seiner Stakato-Gitarre abgefeuert hatte? Aber das war ja noch nicht alles. Statt der von mir erwarteten CDs oder Filme lagen in seinem Korb »National Geographic – Wunderwelt Amazonas«, eine Aerobic-DVD-Box mit Sidney Rome (ich sagte es ja bereits, der Mann war ein Kraftpaket) und zwei CDs: »Metal Ballads« und »Metal Ballads 2«. Ich traute meinen Augen nicht.


Das Beste sollte aber noch draußen kommen. In der Fußgängerzone hing ein Plakat, vor dem er andächtig stehen blieb und es sinnierend betrachtete. Irgend jemand gratulierte den Frauen dieser Welt. Moment. Frauen dieser Welt? Das hatte ich doch schon mal gehört. Ich öffnete in Windeseile verschiedene Schubladen meines Gehirns, aber nirgends fand ich einen Hinweis. Schließlich kam ich an die mit der Aufschrift »Nicht öffnen, um Himmels Willen nicht öffnen« und riss sie auf. Und da war sie, die Antwort.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und raste zurück zum Saturn. Wo hatten die hier die deutschen CDs? Ach ja, da hinten. Ich schnappte mir das letzte Album der Toten Hosen, und da stand es: »Frauen dieser Welt«. Aber was hatte das zu bedeuten? Ich grübelte und grübelte, wurde aber nicht schlau daraus. Also musste ich wohl oder übel den Song anhören (was auf nüchternen Magen wirklich nicht empfehlenswert ist), kämpfte mich schweißgebadet durch die ersten Minuten, aber dann war es mir, als schlüge mir jemand eine Pfanne auf den Hinterkopf. Plötzlich hörte ich ihn! IHN! Den Hünen! Den Athleten. Das Kraftpaket. Den Kinderfresser! Er sang den Chor. Eindeutig, das war er. Diese Tour war eine einzige Offenbarung. Ein bunter Reigen schmerzvoller Enthüllungen. Und wer war schuld daran? Niemand anders als euer Captain (der in diesem Fall dafür durch die Hölle gegangen ist, denn noch Stunden später hatte ich dieses grauenvolle Lied im Kopf).

Geradezu traumatisiert machte ich mich auf den Weg nach Halle. Ich war dermaßen verwirrt, dass ich unmöglich auch noch eine Verfolgungsjagd mit dem Bus zustande bringen konnte. In meinem Kopf drehte sich alles. Tausend Gedanken stürmten auf mich ein, und über allem schwebte wie ein Endlos-Loop »Frauen dieser Welt, könnt ihr mich hören?«. Ja, verdammt, ich höre dich. Ist jetzt mal gut?

Das mit dem Sanitäter-Outfit hatte am Vorabend so gut geklappt, dass ich das heute gleich noch mal ausprobierte. Und auch hier kam ich problemlos in die Halle. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass man mich möglicherweise um Hilfe bitten konnte. Man nahm natürlich fälschlicherweise an, ich wäre medizinisch bewandert. Plötzlich kippte nämlich direkt neben mir ein – ich formuliere es jetzt mal vorsichtig – gänzlich unattraktives, dafür aber umso schlecht riechenderes Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren um, und nur Bruchteile von Sekunden später stand eine Traube von jungen Burschen um mich herum, die hämisch grinsend lautstark »beatmen, beatmen!!!« skandierten. Ja danke schön, Jungs. Nee, sorry, aber so weit geht meine Aufopferungsgabe für die Spacken-Jünger dann doch nicht. Ich ergriff kurzerhand den vollen Bierbecher von einem der Jungs und kippte den Inhalt dem Mädchen ins Gesicht. Ihr hättet mal sehen sollen, wie schnell die wieder auf den Beinen war. Puuh, da war ich dem Gevatter noch mal von der Schippe gesprungen. Im Weitergehen beobachtete ich, wie sich das gleiche Mädchen in Richtung des nächsten Sanitäters bewegte, sich noch einmal kurz über den Mund wischte und dann theatralisch zusammenbrach. Ach so eine war das!


Überhaupt waren heute seltsame Leute im Publikum. Ein paar Mädchen, die direkt vor dem Gitarristen standen, hatten offenbar eine neue Spezialität aus Halle entdeckt: dort schenkte man Elektrobier aus. Fortwährend skandierten die Damen eben jenen Getränkenamen, abwechselnd mit ihrem Schlachtruf »Das war super, das war elegant«, wenn sie nicht gerade einen neuen Becher ansetzten und auf Ex austranken, um ihre Stimmung massiv in Richtung Mainzer Fassenacht zu befördern. Das blieb natürlich schon rein optisch nicht ohne Folgen, und ich konnte problemlos ein Beweisfoto machen, da ihr Bewegungsapparat im Allgemeinen mittlerweile doch leicht verlangsamt arbeitete.

Security D. hatte – wie schon am Abend zuvor – wenig zu tun und ließ seinen Blick über die vorwiegend weiblichen Fans schweifen. Mit welcher Intention, entzieht sich allerdings völlig meiner Kenntnis, und ich würde es hier nie wagen, Spekulationen anzustellen. Ich bin ein Mann der Fakten. Vermutlich verhinderte er nur, dass Fotos von der Band gemacht wurden.
Dafür konnte ich aber in aller Ruhe die erste Reihe fotografieren. Leider habe ich kein besonders gutes Gedächtnis, aber ich könnte schwören, das eine oder andere Gesicht bereits an einem der vorangegangenen Abende gesehen zu haben. Aber das konnte ja gar nicht sein. Wer war denn so bescheuert, sich ein und das gleiche Konzert zweimal anzusehen?

Wie geheim diese Tour tatsächlich war (und wie brisant deshalb auch mein Bildmaterial ist), wird deutlich an den Aufnahmen, die ich an diesem Abend machen konnte (immer in der Angst, von D. oder noch schlimmer von der schrecklichen Dotty, vor der die gesamte Crew zitterte), erwischt zu werden.

Der Schlagzeuger spielte mit einer Augenbinde getarnt, Gitarrist und Bassist spielten beinahe vollständig im Dunkeln, und selbst der Verkäufer am T-Shirt-Stand (der, wenn ich mich recht entsinne, Enrico heißt und heute Abend Geburtstag hatte) trug aus Angst, erkannt zu werden, eine raffinierte Augenbinde. Normal war das nicht mehr!

So, ich finde, ich habe jetzt wirklich genügend Beweise geliefert, um eine erste Bestandsaufnahme zu wagen. Und jetzt stelle ich eine ketzerische These auf, die mich in den Kerker oder in D.’s Suppentopf bringen kann. Aber ich kann einfach nicht mehr mit der Lüge leben. Nach all dem, was ich gesehen habe, bin ich fest davon überzeugt ... oh, Moment, es klingelt!