Der letzte Tag. Welch Zweideutigkeit haftet diesem Satz an! Der letzte Tag der Tour? Oder steckte da mehr dahinter? Ich wachte morgens auf und hatte das sichere Gefühl, dass heute etwas passieren würde. Was, konnte ich im Moment noch nicht sagen, aber ich spürte, dass sich das Schicksal – wie auch immer das aussehen würde – heute besiegeln würde, daran bestand kein Zweifel.

Ich wusste nicht mal, ob ich Angst davor haben oder mich darauf freuen sollte. Immerhin habe ich euch ja vor wenigen Tagen das Versprechen gegeben, das Geheimnis hinter Nackt unter Kannibalen zu lüften, komme, was da wolle. Ich war mir sicher, dass ich heute das fehlende Puzzleteil finden würde, das auch den letzten Zweifel an meiner Theorie zerstreuen würde.

Mit gemischten Gefühlen erreichte ich Rottweil, ein kleines, fast ausgestorben wirkendes Städtchen irgendwo im Nirgendwo. Obwohl es Samstag Nachmittag war, war keine Menschenseele auf den Straßen, Das Szenario wirkte wie in einem Western, wo die Straßen leer gefegt sind, wenn sich die beiden Revolverhelden duellieren.

Es war noch viel Zeit bis zum Konzert, und es hatte keinen Sinn, der Band nachzustellen, denn die würde das Hotel ohnehin nicht vor Einbruch der Dunkelheit verlassen, da konnte ich unbesorgt sein. Also machte ich mich auf die Suche nach einem Restaurant. Das sollte ja eigentlich kein größeres Problem darstellen, aber da hatte ich die Stadt doch deutlich überschätzt. Wenn ein Lokal (wobei Lokal wirklich das falsche Wort ist, denn es waren alles widerlich stinkende Kaschemmen, die nach altem Rauch, ranzigem Fritierfett und Bauarbeitern nach einer Zwölf-Stunden-Schicht rochen) ausnahmsweise mal keinen Ruhetag hatte, verriet mir ein kurzer Blick hinein, dass ich hier ganz sicher nichts essen wollte. In jeder dieser Kneipen begegnete ich aber den gleichen, vor Gram zerfurchten Gesichtern alter Männer, die stumm vor ihren Gläsern saßen und ins Leere starrten. Nur wenige blickten überhaupt kurz auf und warfen mir einen mitleidigen Blick zu, nur um gleich wieder in sich selbst zu versinken.


Diese Atmosphäre der völligen Aufgabe strahlte die gesamte Stadt aus. Wie konnte man hier nur leben, fragte ich mich?
Auf meiner Suche begegneten mir seltsame Kunstwerke, die allesamt ein morbides Flair ausstrahlten, das mir so noch in keiner anderen Stadt aufgefallen ist. Seien es Statuen, die Kinder am Stiel verschlangen, oder Gemälde von Hinrichtungen nackter Jünglinge an Gebäude-Fassaden, der Tod war hier allgegenwärtig

Selbst harmlos aussehende Geschäfte konnten ihre düstere Bestimmung kaum verbergen. Am Schaufenster eines Schuhmachers stieß ich auf folgende Aufschrift: »Orthopädische Zurichtungen für alle Kassen.« Bedeutete das, dass man hier auf Krankenschein gerichtet wird? Konnte das möglich sein? Aber warum? Wem nützte das etwas? War Rottweil doch die sagenumwobene Stadt »Rotten«, auf die ich in zahllosen Schriften aus dem Mittelalter gestoßen war? Wenn das stimmte, waren weder ich, noch Nackt unter Kannibalen heute zufällig hier. Dann war völlig klar, dass sich der Kreis hier und heute schließen würde.

Ich beschloss, mich schon mal ein wenig an der Halle umzusehen. Irgendwo noch etwas Essbares zu finden, konnte ich wohl getrost vergessen. Das Kraftwerk war vor langer Zeit offenbar tatsächlich ein solches gewesen, dem Zustand nach zu urteilen hat es seine besten Tage allerdings vor vielen, vielen Jahren gehabt. Es sah aus wie eine Bauruine (was es zweifelsohne auch war), und ich konnte mir kaum vorstellen, dass in diesem Gemäuer heute Abend ein Konzert stattfinden sollte. Die davor wartenden Fans verrieten mir aber, dass ich hier tatsächlich richtig war.

Am Hintereingang stand noch kein Ordner, und da der Bandbus noch nicht vorgefahren war, konnte ich mir einigermaßen sicher sein, dass ich drinnen weder auf D. noch auf Dotty stoßen würde.

Also betrat ich mit klopfendem Herzen die Halle und versuchte, so gut es ging, meine Aufgeregtheit zu verbergen.

Drinnen lief natürlich emsig Personal hin und her, das mich aber kaum beachtete. Ich tat so, als wäre es das normalste der Welt, hier drinnen herum zu laufen und ein paar Fotos zu machen.


Hatte das Kraftwerk von außen schon schlimm ausgesehen, so verbesserte sich dieser Eindruck von innen kein bisschen. Besonders fiel mir die Grabeskälte auf, die mich frösteln ließ. Draußen pfiff ein eisiger Wind, und ich hatte gehofft, mich in der Halle etwas aufwärmen zu können. Dieser Wunsch wurde mir leider nicht erfüllt.

Von der Band war weit und breit nichts zu sehen, und da ich mich ungern auf eine Konfrontation einlassen wollte, schlich ich mich wieder nach draußen. Mehr frieren konnte ich dort auch nicht.

So wartete ich bei laufendem Motor in meinem Auto, das ich direkt vor dem Kraftwerk abgestellt hatte, und beobachtete, wie der Bandbus ankam und die Band, schwarz gekleidet wie immer, durch den Hintereingang verschwand. Der Bassist drehte sich allerdings noch einmal in der Tür um und blickte direkt in meine Richtung. Er wusste, dass ich hier saß und sie beobachtete. Wegen der Entfernung konnte ich keine Gesichtszüge erkennen, war mir aber trotzdem sicher, dass er diabolisch lächelte und wissend nickte. Trotz der laufenden Heizung fröstelte es mich.


Ich verließ das Auto erst, als der Einlass begann.

Ruhig und diszipliniert standen die Fans auf der Treppe an und warteten geduldig.

Viele von ihnen trugen bei arktischen Temperaturen lediglich ein T-Shirt, was ihnen aber scheinbar nur wenig auszumachen schien.

Ich konnte es nicht verstehen.


Im Dunkeln wirkte die Halle eher wie eine Gruft als wie eine Konzerthalle. Dieser Eindruck wurde durch die seitlich angebrachten roten Deckenfluter noch verstärkt. Wüsste ich nicht, wo ich mich gerade befand, würde ich die Atmosphäre als sakral bezeichnen, aber dieser Vergleich wäre dann doch mehr als blasphemisch.

Allerdings würde ich gerne mal einer Messe beiwohnen, bei der die Besucher derart ausgelassen sind. Als ehemaliger Katholik habe ich ja schon öfter alte Omas unter dem Einfluss von zu viel Weihrauch ihre Röcke raffen und albern kichern gesehen, aber das hier war eine andere Dimension. Der Wahnsinn griff um sich, und man konnte dabei zusehen, wie immer mehr Besucher davon ergriffen wurden. Einige der Fans hatten sich gar ihrer Unterhosen entledigt und sie sich einem Stirnband gleich um den Kopf gewickelt! Ich kann nur hoffen, dass ihre armen Eltern nie den Weg auf diese Seite finden. Diese Scham möchte ich ihnen doch lieber ersparen.

Plötzlich spürte ich einen klammernden Griff an meinem Nacken. Es fühlte sich an, als wäre mein Hals in einen Schraubstock geraten. Ich versuchte, meinen Blick zu heben, wurde aber grob zu Boden gedrückt. Alles, was ich erkennen konnte, war ein graues Sweat-Shirt, so eines, wie D. es allabendlich trug. D.??? Oh mein Gott, er hatte mich gepackt. Was hatte er vor? Was hatte das zu bedeuten? Mir blieb die Luft weg, während er mich nach hinten schleifte. Ich wusste, dass Widerstand zwecklos war. Alles, was ich wusste war, dass ich in wenigen Augenblicken das dunkle Geheimnis von Nackt unter Kannibalen lüften würde. Meine Mission war somit erfüllt.
P.S. Der nächste SPACKEN wird somit wohl noch etwas auf sich warten lassen!